Der letzte Weg führt in die Eiszeit: die Ambivalenz des Kältemotivs bei Bernard-Marie Koltès und Thomas Bernhard
Vortrag anlässlich der Konferenz „Das Verbindende der Kulturen“ (Wien, 2003), organisiert vom Institut zur Erforschung und Förderung österreichischer und internationaler Literaturprozesse
«Gibt es ein Leben vor dem Tod?»
So wie der Tod im Zentrum des Werkes von Thomas Bernhard steht, durchzieht er wie ein roter Faden die Theaterstücke von Bernard-Marie Koltès; wie eine Litanei führen uns beide Autoren immer wieder vor Augen, wie lächerlich alles ist, wenn man an den Tod denkt.
Lächerlich oder sollten wir sagen, komisch: überfällt uns bei der Lektüre des Übertreibungskünstlers Bernhard nicht viel öfter ein Lachen, dass wir uns nicht eingestehen wollen und hat nicht Koltès einmal gesagt: Meine Stücke sind viel komischer, als sie inszeniert werden!
Immer dieselben Variationen über das gleiche Thema, ein Ziel scheint für beide Autoren klar abgesteckt: Einsamkeit, Leiden und Tod bestimmen unsere Existenz, und doch haben selten Schriftsteller mit so viel Intensität und Tiefe über das Leben geschrieben, dieses Endspiel, dem der Tod zwar unweigerlich seinen Rhythmus aufzwingt, das aber hier und jetzt auf der Bühne gespielt wird.
Die Schauspieler in diesem Stück um Leben und Tod gehen einen letzten Weg - den, der in die Eiszeit führt, und diese End- und Eiszeitvision bewegt sich immer auf der Trennungslinie zwischen der Kälte als befreiende Kraft des erstarrten Intellekts, und der , die unsere Welt in ein eingefrorenes Aquarium verwandelt, in dem jegliches Leben im Eisblock endet.
Doppeldeutigkeit der Kälte also, Leben und Tod durch ein-und dasselbe Leitmotiv verbunden, Endstation Eiszeit, Kälte als Einbahnstraße, aber auch als Notausgang - denn beim näheren Hinsehen entpuppen sich die zahllosen Metaphern in beiden Werken als feinsinnige Verstrickungen eines Themas in verschiedenen Verkleidungen. Im gesamten Werk des zeitgenössischen französischen Autors prallen mit einer vom Autor fast krankhaften Besessenheit einsame Seelen aufeinander, die wie Raubtiere aus der Nacht auftauchen, umeinander kreisen, sich ständig auf dem schmalen Grat zwischen Kollision und Fusion hin- und herbewegen und deren letzter Weg der in die Eiszeit zu sein scheint. Bernard-Marie Koltès, der laut P.Chéreau wie ein Komet ungestüm durch unseren Himmel fegte, hat in seinem kurzen Leben - er starb 1989 im Alter von 41 Jahren -ein bedeutendes Theaterwerk hinterlassen, das auf allen Bühnen der Welt präsent ist und die Titel seiner Stücke wie «Quai West», «Roberto Zucco», «Kampf des Negers und der Hunde», «Die Nacht kurz vor den Wäldern» «Bitternisse» , «Dumpfe Stimmen» oder «Rückkehr in die Wüste» geben schon den Ton einer Melodie mit tragischen Untertönen an.
In seinem sicher besten und sprachgewaltigen Stück «In der Einsamkeit der Baumwollfelder», in dem eine geschäftliche Transaktion zwischen dealer und Kunde vor dem Hintergrund einer schäbigen Vorortsiedlung im Ton eines philosophischem Dialogs im Stile des 18. Jahrhunderts geführt wird. In dieser außergewöhnlichen Mischung finden wir in den Worten des Dealers die Ambiguität, die alle Protagonisten Koltès kennzeichnet:
«Quand j’étais petit, je courais derrière les poules dans la basse-cour pour les tâter et découvrir, par curiosité pure, si leur température était celle de la mort ou de la vie. Aujourd’hui que je vous ai touché, j’ai senti en vous le froid de la mort, mais j’ai senti aussi la souffrance du froid, comme seul un vivant peut souffrir.....»
«Als ich klein war, rannte ich im Hühnerstall hinter den Hühnern her, um sie zu betasten und um aus reiner Neugier herauszufinden, ob ihre Temperatur die des Todes oder des Lebens war. Heute, als ich sie berührte, habe ich in Ihnen die Kälte des Todes gefühlt, aber ich habe auch das Leiden unter der Kälte gefühlt, so wie nur ein Lebender leiden kann. Darum habe ich Ihnen meine Jacke gereicht, um Ihre Schultern zu bedecken, da ich nicht unter der Kälte leide. Und ich habe nie unter ihr gelitten, und zwar so wenig, dass ich darunter gelitten habe, dieses Leiden nicht zu kennen, so sehr, dass der einzige Traum, den ich hatte, als ich klein war -einer dieser Träume, die kein Blick ins Offene sind, sondern ein zusätzliches Gefängnis, die der Augenblick sind, da das Kind die Gitterstäbe seines ersten Gefängnisses wahrimmt, wie diejenigen, die als Sklaven geboren sind, davon träumen, sie seien Herrensöhne-, mein Traum war es, den Schnee und den Frost kennenzulernen, die Kälte kennenzulernen, unter der Sie leiden.»
Nie werden Leser oder Zuschauer «das obskure Objekt ihrer Begierde» kennen, nie werden wir erfahren, worum hier gehandelt wird, der Text bleibt von Anfang bis Ende Geheimnisträger, aber im Herzen diesen Zitats finden wir die ganze Zweideutigkeit der Kälte, der Todessehnsucht: der Dealer möchte die Kälte fühlen, die nur ein menschliches Wesen fühlen kann; im Grunde sehnt er sich nach dem Leiden unter der Kälte, um das Leben zu erfahren. Als Fremder in dieser Welt der Lebenden, fühlt er keine Kälte und -paradoxerweise- würde dieser Schmerz ihm eine Existenz verschaffen, in Abwandlung der Descarteschen Maxime: «Ich fühle die Kälte, also bin ich!»
Die Verwandschaft mit den Bernhardschen Protagonisten liegt zweifellos nahe, die das Leben und den Tod durchziehende Kälte hat der österreichische Autor auf seine ihm eigene Weise in sein Werk integriert - sie verstört, fasziniert den Leser, lässt ihn auf manchen Seiten bis zur Unerträglichkeit erzittern, denoch erscheint sie als «geistige Nahrung»; sie wird zum täglichen Brot und natürlichem Lebenselement der Figuren wie der Maler Strauch in Frost oder der Fürst Saurau in Verstörung. Sie und viele andere ziehen ihre Substanz aus der Kälte, um sich einer Welt anzugleichen, aus der sich die Wärme seit langem zurückgezogen hat,
einer radikal atheistischen Welt, deren Hoffnungslosigkeit und Pascalscher Verlassenheit Thomas Bernhard in Frost sozusagen ein Denkmal gesetzt hat.
Bei genauerem Lesen stoßen wir tatsächlich auf Elemente, Bilder einer ganz persönlichen Apokalypse, die Koltès und Bernhard zusammenführen und sie zu Vertretern einer Weltsicht machen, die als eine Illustration der vom Maler Strauch in Frost gepriesenen A-Wahrheit -zu denen auch die Kälte gehört- gesehen werden kann: ein Universum der Anti-Wahrheit, der Anti-Logik mit ihren eigenen Gesetzen, mit einer extravaganten Kohärenz und multiplen Verschlingungen.
Und es ist diese A-Wahrheit, die Tatsache, dass ein binäres Schema wie Kälte-Tod und Wärme-Leben sich auf subtile Weise in einer Schattenzone bewegt, die mit althergebrachten literarischen Bildern aufräumt.
Diese Welt der Endzeit wird durch die Auswahl der Schauplätze, der Atmosphäre und der Protagonisten, die das Werk der beiden Autoren bevölkern, bestimmt. Doch nicht nur diese äußeren Elemente fallen der Kälte und der Zerstörung anheim, die Sprache selbst löst sich auf, zerrinnt in endlosen Redeflüssen oder gefriert im Gegenteil zu einem Block von unentschlüsselbaren Zeichen, die jegliche Kommunikation unmöglich machen.
Um diese im Zeichen der Apokalypse stehende Welt zu entziffern, wollen wir uns zunächst den Orten der Handlung zuwenden, an denen sich die Endzeittragödie/komödie abspielt.
Erinnern wir uns an die Schauplätze der Bernhardschen Romane und Stücke, häufig auf eine von Langeweile und Dekadenz geprägte Provinzwelt reduziert, deren Abgründe sich ebeso im Werk Koltès auftun und an Einflüsse der russischen Autoren denken lassen. Aber auch die Evozierung der Städte bleiben nicht von Chaosvisionen und Zerstörung verschont.
Für beide Autoren wird das städtische bzw. provinzielle Dekorum zum «Unort», zum Fragment, das der Leser nur in Stücken, in Parzellen wahrnimmt - nur eine Luftaufnahme könnte eine totale Sicht ermöglichen. Es sind keine Orte des Austauschs mehr, sondern kompakte Formen ohne Inhalt, in denen die Individuen aneinander vorbei gehen (und reden), ohne diese Räume mit einer menschlichen Gegnwart auszufüllen. Bei Koltès ist die Großstadt eine geometrische Landschaft, in denen die Kälte auf die Menschen niederfällt wie ein Virus, der auch in der Kältewüste der Bernhardschen Anti-Idyllen ansteckend ist. Hier ist die literarische Landschaft noch als eis- und endzeitliches Dekor vorhanden, während bei Koltès die Räume auf minimalistische Weise zu nackten Spielflächen reduziert werden: ein kaum beleuchteter Kai, ein schummriges Stadtviertel, ein nächtlicher Friedhof oder ein verlassener Hangar. Immer handelt es sich um Plätze, an denen die Figuren sich unweigerlich treffen müssen und zum Reden verurteilt sind, die Sprache wird Handlung, die Worte zu Waffen, der Theaterraum wird zu einem morbiden Schauplatz, auf dem sich eine «diskrete» Apokalypse abspielt (oder ist es schon die Zeit nach der Endzeit?), ohne Feuersbrunst oder Sintflut. Koltès selbst sah die Bühne als provisorischen Spiel-Platz an, auf dem die Schauspieler ständig unter Druck stehen, den sie so schnell wie möglich verlassen wollen, so wie sie ihre Existenz wie einen abgelegten Mantel auf der Bühne des Lebens zurücklassen. Der Zuschauer kann sich nicht von dem Eindruck befreien, dass sie weder bleiben wollen noch gehen können; sie scheinen wie festgewachsen an ihrem Platz, in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft, die ausichtslos scheint.
Aber so wie die defintive Todeskälte, die auf uns wartet, uns mit Schrecken erfüllt und uns trotz allen Leidens im Leben zurückhält, so sind diese mit einigen Strichen skizzierten, von einem eisigen Wind durchwehten Orte, an denen sich Menschen begegnen, ein Stück Welt, in dem eine Handvoll Menschen, vielleicht die letzten ihrer Art, das Leben spielen.
Bleibt die Kälte also das einzige Gefühl, das uns noch aus unserer Lethargie erweckt, eine Reaktion in uns hervorruft? Ist der, der die Kälte nicht mehr spürt, schon dem Tod anheimgegeben, während der, der noch vor Kälte zittern kann, noch im Leben steht?
Diese fragmentarischen Orte, diese Planquadrate des Lebens, sind Schauplätze der Entropie, deren Theorie den unwiderruflichen Energieverlust einer Wärmequelle beschreibt, bei dem der Wärmestrom fatalerweise zum Kältestrom wird. In Thomas Bernhards (und Koltès) Werk ist diese Theorie eng mit der Idee verbunden, dass die geschichtliche Entwicklung der Welt mit einem immer stärker werdenden Rationalismus einhergeht.
In Bernhards Universum geht Wärme in jeder Hinsicht und jeder Form verloren, in der Außenwelt durch den Frost, der alles verschlingt, in der Innenwelt im Gehirn der Individuen, die von einem unheilbarem Wahnsinn befallen sind. Die absolute Feindseligkeit des Universums vernichtet sie, sie werden sich der tiefen, radikalen Gleichgültigkeit der Natur dem Menschen gegenüber bewusst. So scheint es nur beim ersten Hinsehen paradoxal, dass der Tod durch die Kälte das einzige Mittel und der einzige Wunsch vieler Bernhardschen Figuren bleibt, um einer anderen Form des Todes zu entgehen, nämlich die der tödlichen Wärme, in der sie sich bewegen: die endgültige Lethargie in der Kälte ist für den Menschen die einzige Möglichkeit, sich von der Fäulnis einer feindlich gesinnten Natur zu befreien, die nur das eine sucht - den Menschen zu zerstören: lieber sich durch Frost versteinern lassen, um sich dem Auseinanderfallen der Welt zu entziehen, Wärme verlieren, um der Anarchie des Universums zu entgehen.
Wie in Bernhards Eiswelt entdecken wir auch bei dem französischen Autor eine ständige Interaktion zwischen atmosphärischer, metaphysischer und psychologischer Kälte nach dem Motto «Die Kälte ist der scharfsinnigste Zustand der Natur»
Es scheint, als ob die Figuren in Koltès’ Stücken die Kälte nötig brauchen, um die Wärme zu entdecken, zu fühlen - sie wird zu einem unerlässlichen Baustein ihres Lebens.
Außenseiter, seelische Krüppel, Verrückte, Mörder, Halbtote und Leichen - Koltès Bühnenwelt ist von Individuen bervölkert, die sich bewusst sind, dass es keine Erlösung im Jenseits gibt, dass die Hölle schon auf Erden stattfindet - das Nichts und die totale Gleichgültigkeit, die zwischen den Menschen herrscht, wird immer wieder, wie ein Refrain, in die Dialoge eingebaut («Il n y a pas d’amour, il n y a pas d’amour»)
Im Werk der beiden Autoren wird mehr und mehr die Idee einer «postmodernen» Kälte spürbar, in der diese nicht mehr bloß Dekorum, Klima, Stimmung ist, sonder aufs Höchste intellektualisiert wird: die Kälte frisst sich bis in die Sprache vor, der Gedankenstrom gefriert förmlich, in einem Universum, das fatalerweise in Schweigen erstarren wird, wenn die Protagonisten nicht in einem unendlich scheinenden Redefluss dieser Lähmung Einhalt gebieten, der sie am Leben erhält, so wie die Kälte, in die sie sich hüllen: sei es Strauch, der Fürst Saurau in Verstörung, oder andere - sie alle stoßen aufeinander, reden aneinander vorbei und trennen sich wieder, ohne auch nur die kleinste Unze ihrer Persönlichkeit preisgegeben zu haben.
In diesem Universum ist fatalerweise auch die Sprache befallen, die wie die Individuen und die Schauplätze häufig fragmentarischen Charakter annimmt, unvollendet bleibt, so wie «die einzige und schreckliche Grausamkeit die des Menschen oder des Tieres ist, die den Menschen oder das Tier unvollendet machen» («In der Einsamkeit der Baumwollfelder»)
An diesen Orten der Kälte, Fragmente einer Hölle, in der die Gesetze von Zeit und Raum nicht mehr gelten, treffen sich die letzten Vertreter der Menschheit, um die ultimen Transaktionen und Transgressionen durchzuführen: Dealer und Kunde beenden ihre Begegnung in einem tödlichen Kampf, der mehrfache Mörder Zucco springt in den Tod, der Selbstmörder Sallinger kommt noch einmal als lebender Tote auf die Bühne zurück - immer stehen sich die Menschen am Abgrund gegenüber, in tiefster Nacht («ténèbres, ténèbres des hommes qui s’abordent dans la nuit»).
Wie schon für Dante, ist die Hölle ewige Kälte, die letzte Kammer aus Eis, das eisige Nichts, in dem Aphasie und seelenlose Leere herrschen, eine Vision der Apokalypse als die einer vollständig korrupten Welt à la Jérôme Bosch, aus der Gott sich zurückgezogen hat und die das schlimmste noch vor sich hat.
Bernhard und Koltès entwerfen diese «Unorte» der Entropie, an denen sich in einer Kältewüste Individuen begegnen, aus der Finsternis des Nichts aufgetauchte Tiere, die sich im Kreis bewegen, mit der «Wildheit der Wesen untereinander in der Dunkelheit» («un rapport sauvage dans l’obscurité»), Wesen ohne Vergangenheit, die wie unter Amnesie leidend, ständig auf der Suche nach etwas sind , das sie bei den anderen zu finden hoffen, diese aber nicht besitzen - im Zentrum dieser Literatur stehen Warten, Geduld, Hoffnung in einer Welt, die keine Regeln, sondern nur noch Mittel zum Überleben kennt (bei Koltès sind es die Waffen), in der alle Figuren aus Kataklysmen aufzutauchen scheinen, wie Wladimir und Estragon die Zeit überbrücken und elementar menschlichen Grundsituationen - Hunger, Müdigkeit, Kälte- ausgesetzt sind, in denen der Mensch zum Wolf des Menschen wird.
Aber so wie die Kälte sie umfängt, leiden und sterben lässt, sehnen sich Koltès (und Bernhards) Protagonisten nach ihr: Roberto Zucco, ein Massenmörder der 80er Jahre, zieht es an die zugefrorenen Seen in Afrika, auf die der Schnee fällt, um gleichsam kindliche Unschuld und sein Lebensheil wiederzufinden, der Selbstmörder aus «Sallinger» ersteht in einem von Schnee bedeckten Friedhof wieder auf, um ins Leben zurückzufinden, Alboury in «Kampf des Negers und der Hunde» will sich am Leichnam seines Bruders wärmen - alle suchen sie auf die eine oder andere Weise die Kälte, weniger die des Todes als die der Sterblichen, der Überlebenden also - eine Tatsache, die uns zum eingangs Gesagten zurückführt.
Zahlreiche Elemente in der heutigen Gesellschaft und in ihrer Literatur lassen uns an die Theorie von C.G. Jung denken, der in Bewusstes und Unbewusstes von der Leere spricht, welche die abendländische Symbolwelt befallen hat; der moderne Mensch in seiner Desorientierung ist auf der Suche nach einer Art von geistigem Trost : könnten wir daraus schließen, dass wir auf der Suche nach neuen Symbolen sind, neue Bilder, die stark genug sind, um nach und nach die alten, abgenutzt und sinnentleert, zu ersetzen? Und könnten diese neuen Bilder nicht aus der Kälte kommen und der Gebrauch der Kälte-Metaphern Seelenzustände oder gesellschaftliche Beziehungen veranschaulichen? Die Beschreibungen der Apokalypse häufen sich in Krisenzeiten oder zu Jahrhundertwenden: Endzeitvisionen finden da ihren fruchtbaren Nährboden, wo das Individuum eben zwischen Unbehagen in der Kultur und der Erwartung einer besseren Welt hin- und herschwankt. Wenn also die Spannung zwischen Frustration und Wunsch (le désir bei Koltès) zu stark wird, scheint das menschliche Gehirn sich von apokalyptischen Szenari überschwemmen zu lassen - die Bilder der Kälte, bis dahin im kollektiven Unbewussten verborgen, treten zu diesem Zeitpunkt hervor.
Kälte, Eiszeit, Endzeit: Schlüsselwörter der Modernität, die für eine von Katastrophen durchtränkten Weltgeschichte stehen, einer unerbittlichen Welt, die von den Gesetzen der Wirtschaft regiert wird -bei Koltès werden die Individuen in Ausbeuter und Ausgebeutete, Verkäufer und Käufer geteilt- aber auch Schlüsselwörter einer literarischen Tendenz, welche ihre Protagonisten in einer Art von «Seelenvereisung» einfriert. Und seitdem zahlreiche Autoren -österreichische (denken wir an Gerhard Roth, Norbert Gstrein, Elfriede Jelinek, Michael Köhlmeyer, Peter Rosei und lange vor ihnen Stifter oder Kafka) französische oder andere- ihr Werk mit verschiedenen Kältemotiven durchsetzt haben, scheint das Thema präsenter als je: allerdings bleibt es nicht mehr nur seinen negativen Konnotationen verhaftet oder todesträchtige Macht in einer Danteschen Eishölle, sondern befindet sich in einer Entwicklung, die andere Assoziationen erlaubt. Demnach bleibt die Kälte immer noch an die Grundängste des Menschen gekettet, kann aber gleichzeitig seine Sehnsucht nach Freiheit , sein Bedürfnis nach Erneuerung stillen: in manchen Werken lässt sich die Bedeutung der Kälte nicht nur auf eine Gegenüberstellung zwischen einer zerstörerischen Kraft und einer von Reinheit bestimmten Welt reduzieren, immer häufiger durchdringen sich beide Extreme und bestehen nebeneinander.
Autoren wie Bernhard oder Koltès scheinen geteilt zwischen dem Wunsch, eine unversöhnliche Kälte zu enthüllen, die von den in grausamer Einsamkeit eingeschlossenen Individuen Besitz ergreift und dem anderen Wunsch, einen Aufbruch in eine reinigende Kälte zu predigen, in der die Menschen sich von Sünden reinwaschen, die sie in einer Welt begangen haben, die nur auf Profit und Egoismus ausgerichtet ist. Wäre die Kälte dann die Zukunft des Menschen, der einzige Garant von Unschuld und Reinheit?
Oder nehmen wir eher an einer Erneuerung, einer Entwicklung des kollektiven Unbewussten
teil, in der die Kälte zu einem Wert wird, der verloren geht, zu einer Art von seltener Ware (einer der Gründe liegt sicher in den wissenschaftlichen Theorien von einer Erwärmung der Atmosphäre)? Dann wären die Protagonisten bei Bernhard und Koltès vielleicht, um Marcel Proust das letzte Wort zu geben, «à la recherche du froid perdu», auf der Suche nach der verlorenen Kälte.