"Als Achill sich Penthesilea vornahm, haben fünf Männer Myrine festgehalten, ich sah die Blutergüsse unter ihrer Haut. Andre Frauen, nicht Myrine, haben es uns erzählt. Achill war außer sich vor Staunen, als er im Kampf auf Penthesilea traf. Er begann mit ihr zu spielen, sie stieß zu. Achill soll sich geschüttelt haben, er glaubte wohl, nicht bei Verstand zu sein. Ihm mit dem Schwert begegnen - eine Frau! Daß sie ihn zwang, sie ernst zu nehmen, war ihr letzter Triumph. Sie kämpften lange, alle Amazonen waren von Penthesilea abgedrängt. Er warf sie nider, wollte sie gefangennehmen, da ritzte sie in mit dem Dolch und zwang ihn, sie zu töten. Dafür, wenn für irgend etwas, sei den Göttern Dank. Was dann kam, seh ich vor mir, als wär ich dabeigewesen. Achill der Griechenheld schändet die tote Frau. Der Mann, unfähig, die Lebendige zu lieben, wirft sich, weiter tötend, auf das Opfer. Und ich stöhne. Warum. Sie hat es nicht gefühlt. Wir fühlten es, wir Frauen alle. Die Männer, schwach, zu Siegern hochgeputscht, brauchen, um sich überhaupt noch zu empfinden, uns als Opfer. Was soll da werden. Selbst die Griechen spürten, hier war Achill zu weit gegangen. Und gingen weiter, um ihn zu bestrafen. Schleiften die Tote, um die er nun weinte, mit Pferden übers Feld und warfen sie in den Fluß. Die Frauen schinden, um den Mann zu treffen." Als ich 1983 zum ersten Mal die soeben erschienene "Kassandra" von Christa Wolf las, wurde ich von dem, was man allgemein einen "literarischen Schock" nennen könnte, ergriffen - wie weit entfernt schien mir die Christa Wolf, die in "Der geteilte Himmel" fast melancholisch eine dramatische Liebesgeschichte vor der Ost-Westkulisse erzählte - und erzählen ist hier wohl der geeignete Begriff.
"Kassandra" sticht wie eine Lanze, dieselbe, die "das Vieh" Achill gebraucht, um seinem bestialischen Tötungstrieb freien Lauf zu lassen: Christa Wolf demontiert in dieser Erzählung den Mythos des Trojanischen Krieges, von Heldentum und kriegerischem Mut durchtränkt. In dieser Parabel auf die patriarchalische Gesellschaft lässt die Autorin kein gutes Haar an den Männern, den Kriegern, deren einzige Motivationen Unterdrückung und Machthunger sind: unfähig, zu lieben und zum Siegen verdammt.